Wünsche des Betreuten sind entscheidend

Eine sehr gute Regelung ist in § 1821 BGB-E enthalten.

§ 1821 BGB-E ersetzt § 1901 BGB. Schon mit der neuen Überschrift soll deutlich werden, dass es um die
Tätigkeiten des Betreuers und um den Maßstab seines Handelns geht.

Die Vorschrift enthält als die zentrale Norm des Betreuungsrechts den inhaltlichen Maßstab für jedes
Handeln des Betreuers und ist damit die „Magna Charta“ für das gesamte rechtliche Betreuungswesen.
Sie wirkt zudem unmittelbar in die gerichtliche Aufsicht wie in die gerichtlichen Genehmigungsverfahren
hinein, da dort das Handeln des Betreuers überprüft wird. Die Norm ist letztlich für alle Akteure des
Betreuungswesens maßgeblich. Mit ihr soll sichergestellt werden, dass die Wahrung und die
Verwirklichung der Selbstbestimmung der Betreuten im Mittelpunkt stehen und ihr Schutz sichergestellt
wird. Sie gilt für das Innenverhältnis zwischen Betreuer und Betreutem. Das Bestreben einer besseren
gesetzlichen Verankerung des Selbstbestimmungsrechts war ein wesentlicher Motor der
Reformüberlegungen, angetrieben zum einen durch die UN-BRK, zum anderen durch die Ergebnisse der
Qualitätsstudie, die unter anderem auf eine unzureichende Beachtung der Vorgaben der UN-BRK in der
derzeitigen Praxis schließen lassen. Schon bisher war das individuelle subjektive Wohl, das sich gemäß §
1901 Absatz 2 Satz 3 BGB an den Wünschen und Vorstellungen des Betreuten zu orientieren hat, für das
Betreuerhandeln maßgeblich. Trotz der Vorgaben des Grundgesetzes, der UN-BRK und der
höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. insbesondere BGH, Urteil vom 22. Juli 2009, XII ZR 77/06)
besteht bei der bisherigen Formulierung jedoch die Gefahr, dass sich Entscheidungen an einem
„objektiven“ Wohl im Sinne objektiver Interessen des Betreuten ausrichten, statt, wie es spätestens mit
Artikel 12 Absatz 4 UN-BRK gesetzlich verbindlich vorgegeben ist, am Willen und an den Präferenzen
des Betreuten. Ein am „best interest“ orientiertes Recht, das die Handlungsmaxime des gesetzlichen
Vertreters objektiven Interessen des Betreuten unterwirft, wäre mit der Konvention nicht vereinbar. Das
Deutsche Institut für Menschenrechte als die Monitoring-Stelle für die UN-BRK hat bezugnehmend auf
den Bericht des UN-Fachausschusses (siehe Concluding observations on the initial report of Germany,
UN Dok. CRPD/DEU/CO/1; auch Degener, BtPrax 2016, S. 205 ff) empfohlen, den „Wohlbegriff“ aus
dem Gesetz zu streichen, weil er aus menschenrechtlicher Perspektive kein geeigneter Maßstab in Bezug
auf unterstützungsbedürftige Erwachsene sei. Er sei ein Relikt aus der 1992 abgeschafften Vormundschaft
und damit ein Einfallstor einer überkommenen Praxis der Vormundschaft. Das Verhältnis von „Wunsch“
und „Wille“ des Betreuten gehört wohl zu den umstrittensten Fragen des Betreuungsrechts (Lipp, Freiheit
und Fürsorge, S. 150). In der Fach-Arbeitsgruppe, die sich im Diskussionsprozess zentral mit der
Selbstbestimmung befasst hat, wurde ebenfalls einhellig vorgeschlagen, den bisher verwendeten Begriff
des Wohls zu ersetzen oder zu konkretisieren. Außerdem wurde empfohlen, Regelungen zu normieren,
wie der Wunsch oder der Wille des Betreuten festzustellen ist, wenn dieser sich aktuell nicht mehr frei
dazu äußern kann.

Mit der neuen Formulierung soll der Selbstbestimmung deutlicher als bisher Vorrang vor einer gut
gemeinten, aber fremdbestimmten Fürsorge eingeräumt werden. Wenn festzustellen ist, dass der Betreute
aktuell zu einer freien Willensbildung nicht (mehr) in der Lage ist, darf nicht an dessen Stelle der
Maßstab eines objektiven Wohls oder Interesses treten. Die Selbstbestimmung von Erwachsenen endet
nicht mit dem Eintritt der Geschäfts- oder Einwilligungsunfähigkeit. Zudem ist sicherzustellen, dass
Formen einer sogenannten unterstützten Entscheidungsfindung (Supported Decision-Making) Vorrang
haben vor einer ersetzenden Entscheidungsfindung (Substituted Decision-Making).

Ungeschriebene – da selbstverständliche – Norm ist, dass der Wille des Betreuten, solange dieser ihn frei
bilden kann, stets zu beachten ist und nicht von ihm abgewichen werden darf. Aber auch dann, wenn die
Fähigkeit zur freien Willensbildung aufgehoben ist, darf nicht auf ein objektives Wohl zurückgegriffen
werden, sondern es sind die Wünsche und hilfsweise der mutmaßliche Wille des Betreuten zu beachten.
Soweit im Gesetz vom „Willen“ gesprochen wird, ist damit der frei gebildete Wille gemeint. In § 1821
BGB-E wird nunmehr bewusst auf die Kategorie des Willens verzichtet und stattdessen ganz umfassend

von den Wünschen gesprochen. Als Wünsche gelten dabei sowohl solche Äußerungen, die auf einem
freien Willen beruhen, als auch solche, denen kein freier Wille (mehr) zugrunde liegt. Nur von solchen
Wünschen, die krankheitsbedingt gebildet sind und deren Befolgung den Betreuten schädigen würden,
darf nach Absatz 3 unter bestimmten Voraussetzungen zu seinem Schutz abgewichen werden. Nicht die
Selbstschädigung als solche, sonders erst die fehlende Eigenverantwortlichkeit, die darin ihren Ausdruck
findet, rechtfertigt die Weigerung des Betreuers, dem Wunsch des Betreuten zu folgen (vgl. grundlegend
Lipp, Freiheit und Fürsorge, S. 157). Dann ist der mutmaßliche Wille maßgebend. Ein Rückgriff auf ein
objektives Wohl ist nicht erforderlich, da stets eine Möglichkeit besteht, den mutmaßlichen Willen
festzustellen bzw. diesen individuell zu bestimmen. Dieser ist aufgrund aller bekannten oder zugänglichen
Anhaltspunkte zu ermitteln. Der Betreuer hat zu fragen, wie sich der Betreute selbst in der konkreten
Situation entschieden hätte, wenn er noch über sich selbst bestimmen könnte. Wenn der Betreuer kaum
auf Anhaltspunkte zurückgreifen kann, hat er eine „beste Interpretation“ von Willen und Präferenzen
vorzunehmen. Dabei ist unbestritten, dass es Situationen geben kann, in denen tatsächlich keine konkreten
Anhaltspunkte ersichtlich sind, welche Entscheidung der Betreute in der konkreten Situation getroffen
hätte. Je weniger Informationen der Betreuer hat, umso mehr muss er auf allgemeingültige Vermutungen
zurückgreifen. Maßstab für diese Bestimmung bleibt aber der individuelle subjektive mutmaßliche Wille
des Betreuten und kein objektives Wohl.

Gegen den freien Willen des Betreuten darf betreuungsrechtlich ohnehin nicht gehandelt werden. Aber
auch dann, wenn ein freier Wille bezogen auf eine konkrete Entscheidung nicht mehr gegeben ist, darf es
nicht zur Fremdbestimmung kommen. Bereits in der Begründung des Gesetzentwurfs des Bundesrates
zum Zweiten Betreuungsrechtsänderungsgesetz vom 12. Februar 2004 zur Einführung des § 1896 Absatz
1a BGB hieß es: „Genießt der freie Wille absoluten Vorrang, bedeutet dies nicht, dass der natürliche
Wille stets unbeachtlich wäre. Das Betreuungsrecht will grundsätzlich auch diesem natürlichen Willen
uneingeschränkt zur Geltung verhelfen. Der natürliche Wille kann jedoch bei Vorliegen gewichtiger
sachlicher Erwägungen unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eingeschränkt werden.“
(Bundestagsdrucksache 15/2494, S. 28).

Dies gilt weiterhin. Es soll jedoch allein vom mutmaßlichen Willen des Betreuten abhängig sein, wann
und in welcher Form von dessen aktuell geäußertem natürlichen Willen abgewichen werden darf. Eine
Einschränkung des Grundsatzes der Selbstbestimmung kann sich nur aus der vom
Bundesverfassungsgericht betonten Schutzpflicht des Staates für hilfsbedürftige Personen vor einer
gravierenden Selbstschädigung ergeben, die in den Fällen eingreift, in denen die betroffene Person nicht
(mehr) handlungs- und entscheidungsfähig ist. Der Schutz vor sich selbst darf erst dann eingreifen, wenn
und soweit die Eigenverantwortlichkeit krankheitsbedingt aufgehoben ist und die Person sich gerade
deswegen zu schädigen droht.

Dieser Beitrag wurde unter Das neue Betreuungsgesetz ab dem 1. März 2023, Wünsche des Betreuten veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

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